Eine Folge von Covid-19 - Gelähmt durch das Guillain-Barré-Syndrom
Viele Menschen kennen durch den Kinofilm „Schmetterling und Taucherglocke“ das Locked-in-Syndrom, das mit völliger Lähmung bei vollem Bewusstsein den Kontakt mit der Außenwelt blockiert. Ein Patient am Klinikum Ingolstadt war einer der ersten in Deutschland, bei dem dieser Zustand als sehr seltene Komplikation nach einer Covid-19-Erkrankung diagnostiziert wurde.
Eigentlich war Rainer Vielwerth kein Risikopatient für Covid-19: 51 Jahre alt, passionierter Tennisspieler und als Physiotherapeut vertraut mit allem rund um die Gesundheit. Zunächst verlief Covid-19 bei ihm auch nicht ungewöhnlich. Fast zwei Wochen lang plagte ihn hohes Fieber von 39 Grad, so dass er schon dachte, „das hört ja gar nicht mehr auf“.
Nach einer vorübergehenden Besserung merkte er, wie das Gefühl aus Händen und Fußsohlen schwand. Und sein Zustand verschlechterte sich weiter: Abends wollte er eine Flasche Wasser, die er schon oft in der Hand gehalten hatte, noch einmal hochheben. „Aber das ging dann schon nicht mehr“, erinnert er sich. Am nächsten Tag trugen ihn seine Füße schon nicht mehr. Der Hausarzt alarmierte den Rettungsdienst, um Rainer Vielwerth während der ersten Corona-Welle ins Krankenhaus zu bringen.
Im Klinikum Ingolstadt hegte Dr. Rainer Dabitz, Oberarzt im Team von Prof. Thomas Pfefferkorn, Ärztlicher Direktor der Klinik für Neurologie, schon bei Aufnahme den Verdacht, dass sein Patient ein Guillain-Barré-Syndrom entwickelt, wie der medizinische Fachbegriff lautet. Zu diesem Zeitpunkt waren schon drei Wochen seit Beginn der Infektion vergangen. Er klärte seinen Patienten auf, dass die Wirkung im Körper aufsteigen könne bis zu einer Atemlähmung, ein besonderes Risiko bei einer von Covid-19 vorgeschädigten Lunge.
“Mir ist Minute für Minute die Luft ausgegangen”
„Es wird schon nicht so schlimm werden“, hoffte Vielwerth an diesem Abend. Am nächsten Tag konnte er sich schon nicht mehr umdrehen und am Ende gar nicht mehr bewegen. „Mir ist Minute für Minute die Luft ausgegangen. Ich habe richtig gemerkt, wie es weniger wurde. Ich war sehr aufgewühlt, bekam richtig Panik“, berichtet er. Er musste beatmet werden. Und was dann folgte, weiß er nur aus Erzählungen anderer: langes Liegen in Bauchlage und Beatmung nach Luftröhrenschnitt.
Beim Guillain-Barré-Syndrom greifen Immunzellen die isolierende Ummantelung der Nervenbahnen und die Nerven selbst an, so dass deren Leitfähigkeit leidet. Der Betroffene kann die eigenen Muskeln nicht mehr steuern, bringt vielleicht nicht einmal mehr ein Blinzeln zu Wege. Zu den Lähmungen und Sensibilitätsstörungen kommen starke Nervenschmerzen. „Man weiß, dass diese Fehlsteuerung des Immunsystems nach Infektionen wie Influenza und des Darms auftreten kann“, berichtet Pfefferkorn. Inzwischen gilt es als wahrscheinlich, dass das Guillain-Barré-Syndrom eine Komplikation von Covid-19 ist. Dazu haben die Ärzte der Klinikums Ingolstadt beigetragen, die sehr früh ihre Beobachtungen im Journal of Neurology veröffentlicht hatten.
Das Schwierigste für Vielwerth war, dass er sich nicht mehr den Pflegekräften und Ärzten mitteilen konnte. Ihnen zum Beispiel nicht einfach sagen konnte, wo ihr sehr starke Schmerzen plagten.
Fünf Wochen lang konnte er sich nicht bewegen, „vielleicht mit dem linken Finger bisschen, schnippen. Später kam wenigstens die Gesichtsmimik langsam wieder“, erzählt er. Einmal mit den Augen blinzeln hieß bei ihm „ja“, zwei Mal hieß „nein“. In kleinsten Schritten probierte er aus, welche Kommunikation noch klappte.
Seine medizinischen Betreuer mussten parallel mit ihm in Trippelschritten lernen, seine Körpersprache zu deuten. Gerade für die Pflege im Klinikum Ingolstadt war es eine besondere Herausforderung, sich um einen Patienten zu kümmern, der nicht mehr kommunizieren konnte und der fünf Wochen lang förmlich in seinem Körper eingeschlossen („locked-in“) war. „Wir mussten erst gemeinsam eine Kommunikation erlernen, da er zunächst keinerlei körperliche Möglichkeit hatte, auf uns zu reagieren,“ berichtet PD Dr. Martina Nowak-Machen, Ärztliche Direktorin der Klinik für Anästhesie und Intensivmedizin in Ingolstadt. „Miteinander konnten wir nach und nach mit kleinen Erfolgserlebnissen lernen, wie er sich mittels Augenzwinkern und einer kleinen Bewegung seines Fingers mitteilte, als er intensivmedizinisch schon wieder auf dem Wege der Besserung und bei vollem Bewusstsein war.
„Das ist eine dicke Kerbe im Leben“
Erschwerend kam die Isolierung auf der Intensivstation und das Besuchsverbot in der ersten Covid-19-Welle hinzu. „Ohne die Pandemie hätte in dieser Situation die Lebensgefährtin des Patienten viel Zeit an seinem Bett verbracht. Das war aber damals nicht möglich. Diese vertrauten Personen können von in Schutzanzüge vermummte Pflegekräfte und Mediziner nicht ersetzt werden. Das ist für uns selber mitunter sehr zermürbend“, erklärt Nowak-Machen. „Das ist eine dicke Kerbe im Leben“, resümiert Vielwerth über die Hochphase seiner Erkrankung. „Das Leben ist nicht mehr wie vorher. Man geht nicht einfach zurück in den Alltag.“
Eine Folge der Erfahrungen aus dieser Zeit ist, dass Intensivtagebücher für Patienten im Klinikum Ingolstadt eingeführt wurden. Damit sie nach erfolgreichem Ende ihrer Behandlung nachlesen können, was in der Zeit passiert ist, als sie nur kaum oder völlig ohne Bewusstsein waren.
Die Therapie erster Wahl beim Guillain-Barré-Syndrom ist ein Cocktail aus Immunglobulinen. Erst die Plasmapherese brachte mit Verzögerung bei diesem Patienten die Wendung. Dieses Austauschverfahren filtert die toxischen Bestandteile, die autoreaktiven Antikörper, aus dem Blut des Patienten.
„Wir waren sehr froh, als er anfing, die linke Hand zu bewegen. Kontinuierlich kamen dann immer mehr Bewegungen hinzu,“ erzählt Nowak-Machen. „Für uns war es sehr bewegend, Herrn Vielwerth wieder so mobil zu sehen, als er einige Monate nach seinem Aufenthalt auf der Intensivstation zu Fuß in die Neurologische Tagesklinik im Klinikum marschiert ist“, erinnert sich Pfefferkorn. Der Neurologe ist überzeugt, dass sich die Fortschritte weiter fortsetzen werden.
Ansprechpartner
Die Klinik für Neurologie unter Leitung von Prof. Dr. med. Thomas Pfefferkorn behandelt alle akuten Erkrankungen der Nerven, des Gehirns, des Rückenmarks und der Muskeln. Die Neuro-Intensiv-Einheit ist ein Teil von ihr.
Ansprechpartner
Zur Klinik für Anästhesie und Intensivmedizin, Palliativmedizin und Schmerzmedizin unter Leitung von Prof. Dr. med. Martina Nowak-Machen gehören zwei Intensivstationen. In der dort untergebrachten Neuro-Intensiv-Einheit arbeiten Spezialistinnen und Spezialisten aus den Fachbereichen Intensivmedizin, Neurochirurgie, Neurologie und Neuroradiologie Hand in Hand.